Enttäuscht über Erdogan

Reiseunternehmer Vural Öger spricht Klartext
YouTube gesperrt,Twitter verboten! Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat deutlich gemacht, was er von den Internetdiensten hält und die jüngsten Kommunalwahlen in der Türkei gewonnen. Das sorgt für Unruhe in westlichen Kreisen und natürlich bei allen, die die Türkei als Urlaubsdestination betrachten: Touristen und Touristiker. Peter Hinze hat Vural Öger, Reiseunternehmer und EU-Abgeordneter für die SPD befragt.
Wirklich offen sagt niemand seine Meinung zum "Fall Erdogan"? Falsch: Vural Öger spricht! Und wie: Der langjährige EU-Abgeordnete (SPD) und seit Januar „V.Ö. Travel“-Chef (gemeinsam mit seiner Tochter Nina) redet Klartext – wie immer. Der Hamburger mit türkischen Wurzeln rechnet ab mit Erdogan, den er einst unterstützte und heute mit tiefer Enttäuschung begegnet. Ein Gespräch über die aktuelle Lage in einem der wichtigsten Reiseländer der deutschen Urlauber – und ein Blick in eine ungewisse politische Zukunft. Denn touristisch gibt es wenig Zweifel, wie Vural Öger feststellt: "Den Deutschen ist doch das mit der Demokratie ziemlich egal. Die Deutschen reisen immer, Hauptsache die Sonne scheint!" Vural Öger kennt sich aus…
The Reception Insider(RI):Wie geht es Ihrem Twitter-Account?
Vural Öger: Ich weiß, was Sie hören wollen. Aber: Ich habe keinen Account in der Türkei. Ich twittere über meinen deutschen Account. Also trifft mich das Türkei-Verbot nicht direkt. Aber das Thema interessiert mich natürlich als gebürtigen Türken. Das ist gar keine Frage!
Ihre Hauptsorge?
Die türkische Gesellschaft ist tief gespalten. Ministerpräsident Erdogan betreibt eine extreme Polarisierungspolitik. Er will 45% Zustimmung für seine Politik haben, egal mit welchen Mitteln. Er weiß, oder er meint zumindest, dass er mit 45% der Stimmen überall und zu allen Themen eine absolute Mehrheit erreichen kann, weil die anderen Parteien untereinander zersplittert sind. Es geht allein um diese Mehrheit!

Um das Ziel zu erreichen, geht Erdogan rigoros gegen politische Gegner oder gesellschaftliche Einflüsse wie Twitter und Youtube vor.
Absolut! Schauen Sie mal: Kurz nach der Wahl hat das Meinungsforschungsinstitut IPSOS, eines der größten in der Türkei, eine Umfrage unter den AKP-Anhänger (Anmerkung: Die AKP ist die Regierungspartei unter Erdogan) gemacht. Die Frage lautete etwa: „Haben die Skandale und Bestechungsvorwürfe gegen Erdogan Sie in der Wahlentscheidung beeinflusst?“ Wissen Sie die Antwort?
Nein, Sie werden mich aber gleich überraschen!
Kurz gesagt: 95% der AKP-Wähler interessieren sich gar nicht für die Korruptionsvorwürfe bzw. für die Beschneidung der demokratischen Freiheiten.
Es mag Europa vielleicht nicht passen, aber: Politisch sitzt Herr Erdogan fest im Sattel.
Fest. Fest. Fest! Die AKP hat acht Millionen Mitglieder. Dazu kommen deren Frauen und Kinder. Das ist schon eine Menge. Und Erdogan hat alle Anschuldigungen immer verneint – und zumeist mit extrem demagogischen Reden. Seine politischen Widersacher hat er alle Verräter genannt – und das ist beim Wähler angekommen.
Trotzdem: Die Wahl hatte einen klaren Sieger. Die Wirtschaft und damit auch Investoren sind allerdings verunsichert. Hat die Lage Auswirkungen auf den Tourismus?
Ich sehe zur Zeit keinen negativen Einfluss. Viele deutsche Urlauber interessieren sich nicht für die politischen Verhältnisse in der Türkei. Es gibt Unterdrückung, aber keine Unruhen. Hauptsache der Preis stimmt. Mein Gott, so ist der Tourist halt. Es gibt viele Länder, wo die Leute unterdrückt werden. Trotzdem fahren die Deutschen dorthin.
Neulich titelte ein touristisches Fachblatt „Türkei: Hoteliers befürchten verheerende Folgen“. Aber namentlich wollte sich dann kein Hotelier zitieren lassen. Auch die (Tourismus)-Branche scheint eingeschüchtert.
Herr Hinze, Sie kennen mich seit 20 Jahren. Ich bin ein Mensch der immer offen redet! Ich lasse mir von niemanden das Reden verbieten. Wenn 100 Leute dagegen sind, vertrete ich trotzdem mein Gewissen und meine Überzeugung. Ich bin überhaupt nicht opportunistisch. Null! Egal, welche Konsequenzen dies auch für mich hat.
Dann sagen Sie doch mal Ihre Meinung über Herrn Erdogan.
Gern. Ich war derjenige der Erdogan jahrelang, auch im Parlament, unterstützt hat! Ich habe seine Reformen sehr hoch gelobt. Aber heute wird doch klar: Die Türkei besteht nicht nur aus bäuerlichen Schichten, aus Immigranten aus Anatolien oder aus bildungsfernen Schichten. Nein, es gibt so etwas wie ein Bürgertum in der Türkei. Eine urbane Gesellschaft. Nur leider interessiert sich Herr Erdogan für diese städtische Gesellschaft überhaupt nicht. 55% der Menschen fühlen sich durch seine Politik nicht vertreten.
Sind Sie enttäuscht vom Ministerpräsidenten?
Natürlich, sehr enttäuscht. Seine ganzen Einschränkungen und Verbote entsprechen nicht meinem sozialdemokratischen Weltbild.
Ihr Lieblingsthema „Türkei und EU“ dürfte sich damit erst einmal erledigt haben. Mal ehrlich: Viel weiter entfernt von diesem Ziel als heute, das geht doch kaum?
Die Türkei unter dieser Regierung entfernt sich rapide von allen europäischen Werten! Es gibt doch kaum ein vergleichbares Land in Afrika oder Asien – naja, vielleicht mit Ausnahme von China – das von einer solchen Situation wie aktuell die Türkei geprägt wird. Wie soll ich unter solchen Voraussetzungen das Land verteidigen bzw. Verständnis für die Türkei wecken. Unmöglich. Das geht doch nicht.
Und touristisch hat die Entwicklung wirklich keine Folgen?
Ich sehe zumindest keine Auswirkungen. Wirtschaftlich gibt es sogar aktuell einen Aufschwung. Die Börse hat deutlich zugelegt. Die Lira hat an Wert gewonnen, ist aber immer noch mit einem Kurs von 3:1 sehr attraktiv. Die Nebenkosten sind also äußerst günstig.
… und Ägypten schwächelt touristisch, das hilft ja auch immer der Türkei.
Ja, natürlich.
Könnte also auch für den Unternehmer Vural Öger ein guter Sommer werden. Aber wie läuft ihr neuer Reiseveranstalter „V.Ö. Travel“ wirklich?
Wir sind erst seit ein paar Tagen gut buchbar. Durch technische Buchungsprobleme zum Start haben wir unglaublich viele Umsätze verloren. Das war ein Riesenpech. Was nutzt das beste Programm, wenn sie nicht gebucht werden können. Heutzutage sind Reiseveranstalter total von der Technik abhängig. Die Folge: Wir haben unsere Kapazitäten für die Monate April und Mai etwas reduziert.
Kritiker sagen, Sie werden sich im hart umkämpften Türkei-Markt schwer tun. Ihre Prognose für das Premierenjahr von „V.Ö. Travel“?
Kann ich noch nicht abgeben. Rufen Sie mich in zwei bis drei Monaten wieder an, dann weiß ich mehr. Wir bleiben auf jeden Fall optimistisch.
Also dann bis Mitte Juli. Es dürfte ziemlich spannend werden bis dahin – politisch und touristisch. Vielen Dank für das Gespräch.
Diese und weitere Gespräche von Peter Hinze finden Sie unter: https://www.reception-insider.com

Quelle: reception-insider.com

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