Hinze, Friedhofslauf
Hinze, Friedhofslauf
Der Gifhorner Friedhofslauf
Wo andere für immer ruhen, macht sich einmal im Jahr eine Gruppe von Läufern zum (wohl) weltweit einzigartigen Friedhofslauf auf eine 7,21 Kilometer lange Strecke. Ein sportliches Vergnügen im Osten Niedersachsen mit einem durchaus lobenswerten Hintergrund. Und für den Autor Peter Hinze, der schon an vielen außergewöhnlichen Orten und Regionen gelaufen ist, die Begegnung mit seinen Eltern und Großeltern. . .
„Schmecket und sehet, wie freundlich der HERR ist. Wohl dem, der auf ihn trauet!“ ¬ Am Anfang eines Tages steht für Johann Harms das Wort Gottes und ein Spruch aus den Psalmen. Aus Überzeugungsgründen – und natürlich aus Berufsgründen: Der 56-Jährige ist Verwalter des Evangelischen St. Nicolai Friedhofs in Gifhorn (kennt nicht jeder, liegt in Niedersachsen).
Aber einmal im Jahr wird aus dem Friedhofswärter ein Friedhofsläufer, Harms gibt den Race-Direktor. Was diverse PR-Agenturen für einen genialen Marketing-Gag verkaufen würden, ist für „Sportfreund Johann“ der ganze normale Alltag: Anfang August organisiert er den Gifhorner Friedhofslauf, seit drei Jahren. Eine wohl noch immer weltweit einzigartige Renn-Location. Läufer können unterirdisch an den Start gehen; nackt laufen; über Berge rennen oder durch Wüsten hecheln, aber auf einem Friedhof? Gifhorn ist einmalig.
„Wir wollen damit auch das Thema Friedhof wieder etwas lebendiger in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit bringen. Weg vom Tabu“, erklärt Johann Harms den eigentlichen Ansatz. Dem Friedhof etwas Leben einhauchen, keine schlechte Idee und eine gute Tat alle mal: Das Startgeld von 2,50 Euro kommt dem lokalen Friedhofsmobil zugute.
125 Jahre lang lebte St. Nicolai ein klassisches Friedhofsleben. Doch dann kam Harms mit seiner Idee, die eigentlich ganz nahe lag: Der Norddeutsche ist selbst passionierter Läufer und aktives Mitglied im VfR Wilsche-Neubokel. Vielleicht kein bekannter Name südlich des Weißwurst-Äquators. Im niedersächsischen Osten aber keine so unbekannte Adresse.
Die Startunterlagen erhalten die 28 Läufer in der Friedhofsverwaltung, wo sich die erste „Beklemmung“ schnell legt. Auch der Blick über die nahen Grabsteine lässt das Läuferherz nicht schneller rasen. Bunte Laufkleidung herrscht vor, Trauerflor ist fehl am Platze. Positiv zudem: Der Lauf verbindet zwei Friedhöfe, die knapp 500 Meter entfernt liegen: östlich vom rund 11.000 Gräber großen St. Nicolai liegt mit nicht einmal 200 Grabstellen der Freikirchliche Friedhof von Neudorf-Platendorf. Dort, im Moor, waren Bestattungen traditionell untersagt. Es drohte (zumindest früher) die Gefahr als „Wanderleiche“ zu enden (was ja fast schon wieder zum Laufen passen würde). Also zogen die Dörfler schon vor rund 100 Jahren ins knapp zehn Kilometer entfernte Gifhorn. Darunter befanden sich bereits in den 70er Jahren die Großeltern des Autors. Im Jahr 2012 folgten dann seine Eltern selbst. Noch mehr und bessere Gründe beim Friedhofslauf an den Start zu gehen, kann es wohl kaum geben.
Der Startschuss selbst fällt, anders als bei der Premiere, vor dem Eingangstor zum Friedhof. Der Grund (nun wird es etwas kompliziert): Die Premiere fand 2015 statt und damals betrug die Strecke 5,21 Kilometer (umgekehrte Zahlenfolge). Diese Tradition wird beibehalten: Also beginnt der Zwei-Runden-Kurs über 7,21km etwas vor dem Friedhofstor. Was sich nach dem Start-„Ruf“ schnell zeigt: Es wartet eine schöne, grüne Trailstrecke auf die 27 Starter. Über Wald und Wiesen führt die Strecke, die Friedhöfe meist fest im Blick. „Mehr Friedhof geht aktuell nicht, schließlich möchten wir die Trauerenden nicht allzu viel stören. Obwohl Leben, Laufen und Sterben zusammengehören“, sagt Harms.
Nach nur 26 Minuten kommt der 23-Jährige Steffen Hanisch vom VfR Wilsche-Neubokel als Sieger ins Ziel. Für eine solche Zeit muss ein Läufer ziemlich wach sein. Der Autor biegt nach 33 Minuten auf den friedhöflichen Obstgarten ein. Der Wahl-Münchner (geboren, natürlich in Gifhorn) feiert nicht nur Platz 5, sondern auch ein sportliches Wiedersehen der besonderen Art mit seinen Eltern. Beim Finisher-Bier klingt ihm die Stimme seiner Mutter im Ohr: „Müsst ihr immer so viel Laufen“, war früher ihre Klage. Heute hätte dieses Argument kaum gelten können, denn dieser Lauf ist ein ziemlich lebendiges Vergnügen. Und wird gekrönt mit einer Bratwurst, wie sie nur im Norden (und im Stadion von Eintracht Braunschweig) zu genießen ist – natürlich auf einem Papierdeckel. Ein quasi „göttliches Vergnügen“, das man wiederholen sollte. Vielleicht im Jahr 2057, denn dann wäre der Gifhorner Friedhofslauf ein klassischer Marathon
Unser Autor Peter Hinze veröffentlicht viele seiner Geschichten, vor allem seine Lauf-Geschichten auf seiner Webseite https://www.reception-insider.com
Quelle: eigen
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