Wo das Glück und die Zufriedenheit zuhause sind

Eine Reise nach Upper Dolpo im nepalesischen Himalaya

Nach nur 15 Minuten verlässt der kleine Flieger das Rollfeld von Juphal wieder Richtung Zivilisation. Stille und Einsamkeit kehren zurück in die wohl einsamste Region Nepals, wo die letzten knapp 8.000 Dolpo-pa ihren alltäglichen Kampf um ein würdiges Leben führen.
Genauso unzugänglich wie das Land die Menschen selbst: Nicht einmal 500 Ausländer wagten 2019 das Abenteuer einer Reise nach Upper Dolpo (2020 kam überhaupt kein Fremder, so die offizielle Statistik). Es gibt kaum Chancen auf Bildung, Krankenvorsorge oder Moderne, nicht einmal genügend Nahrung.

Die Dolpo-pa, noch immer Anhänger des Bön, der wohl ältesten, noch praktizierten Religion der Welt, geprägt von Glauben an Heiler, Schamanen und Naturgewalten, leben zurückgezogen. Fremde sind ihnen wirklich „fremd“, deshalb freue ich mich über meine Begleitung: Tsering Sumjok kenne ich schon länger. Sie hat ihre komplette Familie im fernen Dorf Bhijer zehn Jahre lang nicht gesehen. Nun will ich sie auf dieser Reise nach Hause begleiten. Und sie möchte mir die Türen öffnen, damit ich vielleicht Antworten auf meine Fragen finde, die mich seit meiner ersten Dolpo-Reise vor drei Jahren bewegen: Wie ist so viel Optimismus trotz eines bedrückenden Alltags möglich? Wie lautet hier die Formel für ein Leben in Glück und Zufriedenheit?

Optimismus und Zufriedenheit

Fragen, die vor allem durch eine unvergessliche Begegnung ausgelöst wurden: Damals erzählte mir eine alte Frau mit leiser Stimme, dass ihr Dorf im Winter für vier Monate von der Außenwelt abgeschnitten sei: „Wenn zu lange zu viel Schnee liegt, dann müssen wir im Frühjahr Gras essen, um zu überleben“. Doch dann lachte sie, und ich erkannte in ihrem Gesicht keine Angst, keine Besorgnis, sondern die Vorfreude auf den Frühling. Was für ein erstaunlicher Optimismus.
In den nächsten Tagen wird Upper Dolpo auf dieser Reise seinem unnahbaren Ruf mehr als gerecht. Nach unzähligen Umwegen, weggespülten Brücken und unpassierbaren Steilhängen dauert es zehn Tage – statt der geplanten fünf – bis wir unsere Zwischenstation Shey Gompa, das spirituelle Zentrum, erreichen.

Der einzig wahre Besitz ist Glück
Dort, vor dem Shey-Sumdo-Kloster, thront der heilige Drachenberg an der anderen Talseite, und neben mir sitzt: Tashi, ein einheimischer Wandermönch, der wahrlich in sich ruht. Schnell wird mir klar: Er reist mit einer Leichtigkeit, die eine besondere Freude und Dankbarkeit am Unterwegssein prägt. Er ist ein wirklicher „mindful traveller“, ein achtsamer Reisender, der ganz unbefangen nur das Hier und Jetzt erlebt. »Manche Leute streben nach immer mehr Geld und fragen sich eifersüchtig: Wie viel hat der und wie viel habe ich selbst? Aber das ist der falsche Weg, denn dieser Reichtum hat keine Bedeutung. Auf meiner Reise besitze ich nur ein Stück Seife, Du hast sie mir gestern geschenkt. Und damit bin ich sehr glücklich“, lacht der Mönch, während Schneeflocken auf seinem Gesicht zu kleinen Wassertropfen schmelzen – und ich ahne: Ohne Besitz gibt es offensichtlich mehr Platz fürs Glück.

Glück ist Beschäftigung
In Tashi‘s gelassener Gesellschaft erreichen wir Bhijer, die Heimat von Tsering Sumjok. Das Dorf mit seinen uralten Steinhäusern scheint sich über die Jahrhunderte kaum verändert zu haben – ebenso wenig wie das Leben selbst. »Wir fu?hren schon seit langer Zeit ein a?ußerst bescheidenes Leben. Und daher hat es die Gier hier schwer, denn: Bescheidenheit und Gier sind keine Freunde“, gibt mir der hohe Würdenträger des Dorfes, Rinpoche Lama Dradhul, mit auf meine weitere Wanderung und fügt einen Rat hinzu: „Hier haben die Menschen immer etwas zu tun. Das ist wichtig, denn: Ohne Bescha?ftigung geht das Glu?ck verloren.“

Hinter Bhijer zieht sich der Weg wieder hinauf in die Berge, der Schnee am Dumla-Pass fällt auf 5.134 Metern Höhe. Die Berglandschaft ist karg. Auf windigen Bergpässen sehen wir den Adlern nach, essen selbst gebackene Chapatis, traditionelle Fladenbrot, träumen vom nahen Tibet und sitzen abends in den Küchen der Bauern, die von der Schönheit der Berge und einer fernen Welt singen, die für sie bereits im nächsten Tal liegt, denn jenseits von Upper Dolpo war bisher kaum jemand. „Warum auch? Wir sind glücklich – hier“, sagt eine alte Bäuerin – und alle lachen. Und meine Begleiterin Tsering flüstert aus der Dunkelheit: „Verstehst Du: In Upper Dolpo streben wir nicht nach Reichtum, wir suchen Zufriedenheit und Glu?ck. Wir fu?hlen uns als eine Gemeinschaft, das macht uns stark.“

Einfach Glück
Über das fruchtbare Namkhong-Tal, wo sich das Alter der Klöster nur nach Jahrhunderten bemisst und der Herbst die Felder goldgelben färbt, führt die Wanderung nach Shimen.
Ganz im Osten Upper Dolpos lässt sich die tibetische Grenze schon erahnen. Es ist die Heimat von Tenzin Norbu Lama, ein international bekannter Künstler. Seit Generationen widmet sich seine Familie der Malerei von Thankas, den religiösen Wandgemälden, die in allen Klöstern zu finden sind: „Ich war u?ber dreißig Mal in Frankreich. Aber bis heute habe ich nicht verstanden, dass dort im Restaurant oft vier Gabeln, vier Messer und drei Lo?ffel vor mir liegen. Warum brauchen wir eine so große Auswahl? Ich hatte in meiner Jugend in Dolpo eine Schale, aus der habe ich am Morgen, am Mittag und am Abend gegessen – und ich war zufrieden. Wir dürfen nicht vergessen: Auch das einfache Leben kann glücklich machen“, erklärt der 51-Jährige und ruft erheitert zum Abschluss: „Und auch mal das Handy aus der Hand legen!“ Kein Zweifel, der Mann kennt sich aus in der weiten Welt.

Glück ist so einfach
Auf dem Heimweg zurück zum Flugfeld in Jupahl führt uns der Weg durch Dho Tarap. Das Dorf könnte mit etwas Übertreibung als das „wirtschaftliche Zentrum“ Upper Dolpos gelten. Hoch oben am Berg residiert im Ribo Bhumpa Kloster der Dolpo Amchi, ein traditioneller Arzt und populärer Heiliger zugleich, der bei meiner Ankunft nicht glücklicher strahlen könnte. „Wie steht‘s um das Glück in Ihrer Heimat, Heiligkeit“, frage ich im klösterlichen Kerzenschein. „Alles ist gut, wenn wir folgendes beachten: Das Normale gibt uns Halt und Struktur. Wenn wir es haben, erscheint es uns manchmal langweilig; fehlt es uns, vermissen wir es jedoch. Wir dürfen unsere Traditionen, unseren Alltag und unsere Routine im Leben nicht verlieren. Denn diese drei Eckpfeiler sind wichtige Sa?ulen, die uns Halt geben.« Sagt es und verabschiedet sich zum abendlichen Gebet hinunter in seine kleine Kapelle.
Nach vier Wochen sind wir zurück in Juphal – und ich frage mich: Habe ich jemals auf einer Reise so viel u?ber das Leben gelernt? Nein. Bin ich jemals zufriedeneren Menschen begegnet, obwohl sie allta?glich um ihre Existenz ka?mpfen? Nein. Und wie war es mit dem Glück? Kein Zweifel, allein die Suche kann schon glücklich machen. Eine herrliche Zeit, die meinen Blick auf das Leben verändert hat. Weil ich Menschen begegnet bin, die ihr Leben mit Wu?rde und Leichtigkeit nicht einfach nur ertragen, sondern trotz aller Herausforderungen glücklich »erleben«. Und dann erinnere ich mich an Karma Tsering, ein einfacher Yak-Bauer und Vater von Tsering Sumjok, der meine Frage mit einem einzigen Satz beantwortete: „Wir haben genug zu essen, wir haben genug zum Anziehen – warum sollten wir nicht glu?cklich sein?“ So einfach kann es also mit dem Glück sein – zumindest in Upper Dolpo.

Das Buch unseres „reisenundgolfen“-Autors Peter Hinze mit dem Titel „100.000 Schritte zum Glück“ erschienen bei National Geographic (Hardcover; ISBN: 9783866907782) mit 192 Seiten und mit ca. 180 Abbildungen kostet 22,99 Euro.
Peter Hinze wurde vor 3 Jahren mit dem bedeutendsten Reisepreis im deutschsprachigen Raum, dem „ITB BuchAward“ in der Kategorie „Reise-Bildband“ ausgezeichnet. Sein Buch »The Great Himalaya Trail. 1864 Kilometer Trailrunning durch eine bedrohte Welt in Nepal« wurde von der Jury als »Trailrunning-Abenteuer, das mit vielen brillanten Fotos und perfekter Schreibe durch die bedrohte Welt Nepals führt« gewürdigt. Das Buch ist bei Knesebeck erschienen (288 Seiten mit 200 farbigen Abbildungen; ISBN 978-3-95728-137-1) und für 35 Euro im Handel erhältlich.

Reise
Hauser Exkursionen (München) bietet im Herbst 2022 eine besondere Trekking-Reise zu den Menschen in Upper Dolpo an: Reiseleiter sind Tsering Sumjok und Peter Hinze
https://www.hauser-exkursionen.de/reise/nepal-unbekanntes-dolpo-hautnah-mit-peter-hinze

Dolpo Project
Der Autor finanziert mit seinem DOLPO PROJECT den Bau von Micro-Gewächshäusern in der Region und unterstützt dort weitere lokale Hilfs-Initiativen. Die kompletten Einnahmen aus dem Buchverkauf gehen in dieses Projekt. Infos unter: https://www.upperdolpo.org (hier kann das Buch auch signiert und mit Widmung bestellt werden).

Quelle: eigen

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